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1986: Tschernobyl, Sowjetunion

   (INES: 7)
Am 26. April 1986 ereignete sich in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl der erste katastrophale Atomunfall; gemeinhin als Super-Gau bezeichnet.
Große Mengen Radioaktivität wurden durch Freilegung und Brand des Reaktorkerns freigesetzt. Die unmittelbare Umgebung wurde stark kontaminiert. Darüber hinaus gab es zahlreiche direkte Strahlenopfer unter den Hilfskräften.

Der Sarkophag des Katastrophenmeilers (2008)
(Quelle: Ben Fairless)
Auf Grund schwerwiegender Verstöße gegen die geltenden Sicherheitsvorschriften sowie der bauartbedingten Eigenschaften des mit Graphit moderierten Kernreaktors (Typ RBMK-1000) kam es bei einer Sicherheitssimulation zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, was zur Explosion des Reaktors führte.
Innerhalb der ersten zehn Tage nach der Explosion wurden mehreren Trillionen Becquerel radioaktiver Stoffe freigesetzt; darunter die Isotope Caesium-137 (Halbwertszeit: 30 Jahre) und Iod-131 (Halbwertszeit: 8 Tage).
Infolge radioaktiven Niederschlags wurden hauptsächlich die Region nordöstlich von Tschernobyl sowie viele Länder in Europa kontaminiert. (siehe: Wikipedia)


Die Chronologie des Atomunfalls
(siehe: Wikipedia)

Freitag, 25. April 1986, 1:06 Uhr
Im ersten Schritt sollte die thermische Leistung des Reaktors von ihrem Nennwert bei 3200 Megawatt (MW) auf 1000 MW reduziert werden; wie bei einer Regelabschaltung üblich.
Der Reaktor sollte sowohl für eine Revision als auch für den Test heruntergefahren werden.

25. April 1986, 13:05 Uhr
Aufgrund erhöhter Stromnachfrage wird auf Anweisung des Lastverteilers in Kiew die Leistungsabsenkung bei einer erreichten Leistung von 1600 MW unterbrochen und der Reaktor mit dieser Leistung konstant weiter betrieben. Bei diesen etwa 50 % Leistung wird der Turbogenerator 7 abgeschaltet.

25. April 1986, 14:00 Uhr
Es wird begonnen, das Notkühlsystem abzuschalten. Grund dafür war, dass bei einem Notkühlsignal kein Wasser in den Reaktor gepumpt werden soll.

25. April 1986, 23:10 Uhr
Es erfolgt die Freigabe zur weiteren Leistungsabsenkung. Der Reaktor soll nun langsam auf 25 % der Nennleistung abgefahren werden.

26. April 1986, 0:28 Uhr
Bei 500 MW erfolgte eine Umschaltung innerhalb der Reaktorleistungsregelung. Durch einen Bedienfehler, durch den der Sollwert für die Leistungsregelung (gesamt) möglicherweise nicht richtig eingestellt wurde, oder aufgrund eines technischen Defekts sank die Leistung weiter bis auf nur noch etwa 30 MW, was ca. 1 % der Nennleistung beträgt.
Wie nach jeder Leistungsabsenkung erhöhte sich vorübergehend die Konzentration des Isotops Xenon-135 im Reaktorkern ('Xenonvergiftung'). Da Xenon-135 als Neutronengift die für die nukleare Kettenreaktion benötigten Neutronen sehr stark absorbiert, nahm aufgrund der Konzentrationszunahme die Reaktivität des Reaktors immer weiter ab.
Als die Betriebsmannschaft am 26. April 1986 um 0:32 Uhr die Leistung des Reaktors durch weiteres Ausfahren von Steuerstäben wieder anheben wollte, gelang ihr das infolge der mittlerweile aufgebauten Xe-Vergiftung nur bis zu etwa 200 MW (7 % der Nennleistung).
Obwohl der Betrieb auf diesem Leistungsniveau unzulässig war (laut Vorschrift durfte der Reaktor nicht unterhalb von 20 % der Nennleistung betrieben werden, was 640 MW entspricht) und sich zu diesem Zeitpunkt außerdem viel weniger Steuerstäbe im Kern befanden, als für einen sicheren Betrieb vorgeschrieben waren, wurde der Reaktor nicht abgeschaltet, sondern der Betrieb fortgesetzt.

26. April 1986, 1:03 Uhr bzw. 1:07 Uhr
Beim Schließen der Turbineneinlassventile läuft normalerweise das Kernnotkühlsystem an. Dieses war jetzt jedoch ausgeschaltet. Um dessen Stromverbrauch für den Versuch zu simulieren, wurden nacheinander zwei zusätzliche Hauptkühlmittelpumpen in Betrieb genommen. Der dadurch erhöhte Kühlmitteldurchsatz verbesserte die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern und reduzierte demgemäß den Dampfblasengehalt in ihm. Der positive Dampfblasen-Koeffizient bewirkte eine Reaktivitätsabnahme, auf welche die (automatische) Reaktorregelung mit dem Herausfahren weiterer Steuerstäbe reagierte.
Der Reaktorzustand wird zunehmend instabiler.

26. April 1986, 1:19 Uhr
Die Wasserzufuhr in den Reaktor wird erhöht, um so die Warnsignale zu deaktivieren.

26. April 1986, 1:22 Uhr
Es gelingt, den Reaktor zu stabilisieren und den Wasserpegel im Reaktor auf zwei Drittel des vorgeschriebenen Wertes zu steigern.




26. April 1986, 1:23:04 Uhr
Der eigentliche Test begann durch Schließen der Turbinenschnellschlussventile. Dadurch wurde die Wärmeabfuhr aus dem Reaktor unterbrochen, sodass die Temperatur des Kühlmittels nun anstieg.
Infolge des positiven Dampfblasen-Koeffizienten kam es jetzt zu einem Leistungsanstieg, auf den die automatische Reaktorregelung folgerichtig mit dem Einfahren von Steuerstäben reagierte. Infolge der relativ langsamen Einfahrgeschwindigkeit der Steuerstäbe konnte die Leistung allerdings nicht stabilisiert werden, sodass der Neutronenfluss weiter anstieg. Dies bewirkte einen verstärkten Abbau der im Kern angesammelten Neutronengifte (insbesondere Xenon-135). Dadurch stiegen Reaktivität und Reaktorleistung weiter an, wodurch immer größere Mengen an Dampfblasen entstanden, die ihrerseits wieder die Leistung erhöhten.
Die Effekte schaukelten sich gegenseitig auf.

26. April 1986, 1:23:40 Uhr
Der Schichtleiter Aleksandr Akimow löst manuell den Knopf des Havarieschutzes (Notabschaltung des Reaktors) aus. Dazu wurden alle zuvor aus dem Kern entfernten Steuerstäbe wieder in den Reaktor abgeworfen.
Doch hier zeigte sich ein weiterer Konzeptionsfehler des Reaktortyps: Durch die an den Spitzen der Stäbe angebrachten Graphitblöcke (Graphit war der Hauptmoderator des Reaktors) wurde beim Einfahren eines vollständig herausgezogenen Stabs die Reaktivität zunächst kurzzeitig um den Wert eines halben Betas erhöht, bis der Stab tiefer in den Kern eingedrungen war.
Die durch das gleichzeitige Einfahren aller Stäbe massiv gesteigerte Neutronenausbeute ließ die Reaktivität so weit ansteigen, dass schließlich (um 1:23:44) die prompten Neutronen alleine (also ohne die verzögerten Neutronen) für die Kettenreaktion ausreichten ('prompte Kritikalität') und die Leistung innerhalb von Sekundenbruchteilen das Hundertfache des Nennwertes überschritt ('nukleare Leistungsexkursion').
Durch diese Leistungsexkursion im Reaktorkern erhitzten sich Wasser, Graphit, Steuerstäbe und Brennstäbe.

Blick auf den zerstörten Reaktor von Block 4
(Quelle: Soviet Authorities)
Erste Explosionen fanden möglicherweise in den Brennelementen statt. Im Folgenden begannen Druckröhren zu bersten, so dass die Reaktorauslegung überschritten wurde. Die einfahrenden Steuerstäbe erreichten nicht die Endposition, sondern wurden möglicherweise durch eine überdruckbedingte Verschiebung von Reaktorbauteilen blockiert.
Das Zirconium der Brennstäbe (Ummantelung der Brennstäbe) wie auch der Graphit konnte mit dem heißen Dampf reagieren. Wasserstoff und Kohlenmonoxid entstanden in größeren Mengen und konnten aufgrund der Beschädigungen des Reaktorkernes entweichen. Unterhalb des Reaktorgebäudedeckels bildeten diese mit dem Sauerstoff der Luft ein explosives Gasgemisch, das sich vermutlich entzündete und zu einer zweiten Explosion (nur Sekunden nach der 'nuklearen Leistungsexkursion') führte.
Welche Explosion zum Abheben des über 1000 Tonnen schweren Deckels des Reaktorkerns führte, ist nicht eindeutig geklärt.
Der glühende Graphit im Reaktorkern fing sofort Feuer.
Große Mengen an radioaktiver Materie wurden durch die Explosionen und den anschließenden Brand des Graphits in die Umwelt freigesetzt, wobei die hohen Temperaturen des Graphitbrandes für eine Freisetzung in große Höhen sorgten. Insbesondere die leicht flüchtigen Isotope Iod-131 und Cäsium-137 bildeten gefährliche Aerosole, die in einer radioaktiven Wolke teilweise hunderte oder gar tausende Kilometer weit getragen wurden, bevor sie der Regen aus der Atmosphäre wusch. Radioaktive Stoffe mit höherem Siedepunkt wurden hingegen vor allem in Form von Staubpartikeln freigesetzt, die sich in der Nähe des Reaktors niederschlugen.


26. April 1986, 4:30 Uhr
Akimow meldet einem Mitglied der Kraftwerksleitung, Nikolai Fomin, dass der Reaktor intakt geblieben sei. Obwohl augenscheinlich überall Bruchstücke der Brennstäbe sowie Graphitelemente verstreut lagen und die Situation bei Tageslicht offensichtlich war, wird seitens der Operatoren sowie der Kraftwerksleitung noch bis zum Abend des 26. April darauf beharrt, dass der Reaktor intakt sei und nur gekühlt werden müsse.
Entsprechende Meldungen wurden nach Moskau übermittelt.
Diese Lüge ist Hauptgrund für die späte Evakuierung der Stadt Prypjat.

26. April 1986, gegen 15:12 Uhr
Der Werksfotograf Anatoli Rasskasov macht die ersten Aufnahmen von der radioaktiven Rauchfahne und dem zerstörten Reaktorblock 4 von einem Hubschrauber aus. Ein Großteil seiner Aufnahmen waren infolge der hohen Strahlungsaktivität geschwärzt. Einige Abzüge behielt er für sich und die anderen Fotos mitsamt der Negative wurden dem Notfallstab und den Sicherheitsbehörden übergeben.
Einige Aufnahmen werden erst am 30. April 1986 retuschiert im sowjetischen Fernsehen gezeigt, um das Ausmaß des Unglücks weniger dramatisch darstellen zu können.


Mit dem Abruf von Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm
versucht man den offenen Reaktor zuzuschütten
(Quelle: Unbekannt)
27. April 1986
Es wurde begonnen, den Reaktor von Block 4 mit Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm zuzuschütten. Dies verringerte die Spaltproduktfreisetzung und deckte den brennenden Graphit im Kern ab. Insgesamt wurden ca. 40 t Borcarbid abgeworfen, um die Kettenreaktion zu unterbinden, ca. 800 t Dolomit, um den Graphitbrand zu unterdrücken und die Wärmeentwicklung zu verringern, ca. 2400 t Blei, um die Gammastrahlung zu verringern, wie auch eine geschlossene Schicht über den schmelzenden Kern zu bilden und ca. 1800 t Sand und Lehm, um die radioaktiven Stoffe zu filtern.
Rund 1800 Hubschrauberflüge waren hierfür nötig. Das zur Kühlung in den Block 4 eingeleitete Wasser sammelt sich aufgrund der geborstenen Leitungen in den Räumen unter dem Reaktor, wo es stark kontaminiert wurde und mit etwa 1000 Röntgen pro Stunde (=10 Gray pro Stunde) strahlte.
Zur gleichen Zeit begann die Evakuierung der in der Nähe liegenden Stadt Prypjat mit 48.000 Einwohnern.

28. April 1986, 9:00 Uhr
Im über 1200 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Forsmark in Schweden wurde aufgrund erhöhter Radioaktivität auf dem Gelände automatisch Alarm ausgelöst.
Messungen an der Arbeitsbekleidung der Angestellten ergaben erhöhte radioaktive Werte. Nachdem die eigenen Anlagen als Verursacher ausgeschlossen werden konnten, richtete sich der Verdacht aufgrund der aktuellen Windrichtung gegen eine kerntechnische Anlage auf dem Gebiet der Sowjetunion.


28. April 1986, 21:00 Uhr
Nachdem die sowjetischen Behörden zunächst eine Nachrichtensperre erlassen hatten, meldete die amtliche Nachrichtenagentur TASS erstmals einen 'Unfall' im Kernkraftwerk Tschernobyl.

29. April 1986
Sowjetische Quellen sprachen erstmals von einer 'Katastrophe' und von zwei Todesopfern.
US-Militärsatelliten liefern ab dem Nachmittag erste Aufnahmen und Informationen, die allerdings der Öffentlichkeit vorenthalten werden.

30. April 1986
Im sowjetischen Fernsehen wird erstmals ein Foto vom Unglücksort gezeigt, das aber retuschiert wurde.

4. und 5. Mai 1986
Es wurde unterhalb der Anlage begonnen, gasförmigen Stickstoff einzublasen, um so das Feuer zu ersticken. Zunächst bewirkte ein Nebeneffekt, dass die Wärme im Kern anstieg und so auch mehr radioaktive Partikel hinausgeblasen wurden.

6. Mai 1986
Die Freisetzung der Spaltprodukte war weitgehend unterbunden. Man begann, ein Stickstoffkühlsystem unter dem Reaktor einzubauen.



Radioaktiver Fallout von Caesium 137 in Europa
(J.Smith and N.A. Beresford "Chernobyl - Catastrophe and Consequences")


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